Werner Fenz 1980

 

Sieht man von der prinzipiellen Tatsache ab, daß jedes Setzen von Zeichen auf einem Bildträger, also jede bildkünstlerische Tätigkeit, beim Produzenten wie beim Rezipienten eine

erhebliche Fähigkeit zur Abstraktion voraussetzt - auch in der Spielform naturalistischer Kunst - so beinhaltet erst die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts zugleich die Geschichte

der abstrakten Kunst. In Zusammenhang damit erhalten wir eine präzise Aussage über den geistigen und künstlerischen Entwicklungsstand. Abgesehen von der Verweigerung der Abbild-Funktion

des künstlerischen Werkes wird seit Kandinsky, Mondrian, den Russischen Konstruktivisten und der Bauhaus-Gruppe in wesentlichen Richtungen auch jede dingliche Identifikationsmöglichkeit mehr oder weniger deutlich unterdrückt. So ist die Ausbildung und Entwicklung der abstrakten Kunst mit ihren unterschiedlichen Ausformungen ein Spiegelbild menschlicher Bewußtseinserweiterung und das aufregende Unternehmen, von einer bestimmten Seite her dem Wesen der Erscheinungsformen, dem Wirken von Prinzipien, dem elementaren Nachvollzug von Abläufen mechanischer, geistiger und wissenschaftlicher Natur näherzukommen. Im Zur-Schau-Stellen der Fähigkeiten zu konzentrieren, nahe an den Kern, an die grundlegende Zelle zu kommen, die Vielfalt von Möglichkeiten auf eine jederzeit wieder auflösbare Formel zu bringen, ist die abstrakte Kunst eine zutiefstmenschliche Kunst. In Bewegung gesetzt von dem Verlangen, geistige Kräfte aufzuspüren oder in Systeme zu fassen.

Eine Herausforderung für das unmittelbare Gefühl oder den wachen Verstand.

Wir haben uns zwar längst damit abgefunden, verschiedenste Erscheinungsformen unter grobe Teilungsbegriffe zu subsumieren, doch die Erkenntnis, wie wenig abstrakt gerade große Bereiche

der "abstrakten Kunst" sind, veranlaßte schon Piet Mondrian und Theo van Doesburg entschieden für eine Begriffsklärung einzutreten. Es sei daran erinnert, daß für Doesburg - im Hinblick einer Abgrenzung seiner Arbeit gegenüber subjektiv bestimmten Pinselstrichen und Farbflecken - nichts konkreter und realer als eine Linie, ein Plan, eine Farbe war, da gerade die geometrisch abstrakte Form eindeutig und unmißverständlicher festgelegt ist als jeder figurative Gegenstand. Die Gegenüberstellung zweier Quadrate, von denen das eine die exakte Ausgrenzung eines bestimmten Flächenstückes ist, das andere durch eine geringfügige Be-Zeichnung vielleicht die Assoziationskette in Richtung des Gegenstandes Haus mit den verschiedensten Bedeutungsebenen in Gang setzt, mag die Unterschiedlichkeit vor Augen rufen.

Seit den 30er Jahren setzte sich für einen wesentlichen, hier im weiteren Verlauf angesprochenen Bereich antifigurativer Ästhetik der Begriff "konkrete Kunst" durch. Neben der

bestimmenden Erscheinung, daß mehrfarbiges oder monochromes Lineament auf die vorliegende Fläche Bezug nimmt, diese besondere Fläche meint (auch als Teil eines Gesamten),

ohne über sie im Sinne inhaltlicher Prozeße hinauszuweisen, taucht besonders in der Neuen konkreten Kunst seit den 60er Jahren der methodische, der ausgeprägt analytische Ansatzpunkt auf.

Grundgerüste werden komplizierter, da man die Grundlagenexperimente bereits hinter sich lassen kann. Von (fast) allen Oberflächenreizen befreit, stellt sich die Bildkunst als

veranschaulichtes System auf naturwissenschaftlicher Basis dar. Dabei gilt das Interesse des Künstlers in erster Linie dem Herstellungsprozeß und weniger dem abgeschlossen Werk.

Allerdings deutlich abgegrenzt gegenüber tachistisch-informellen Zufallsprodukten. Nur das Kontrollierte, daß jederzeit Nachprüfbare finden Eingang in die konkrete Kunst, die aus einem

engen Konnex zur Wissenschaft zunächst gewiß auch eine Daseinsberechtigung für Kunst ableitete. Das Mißtrauen gegenüber jeder Form von Subjektivität schlug sich in den Werten

Maß, Ordnung, Raster, System nieder. Hierin liegt die Wahrheit; jede, auch nur zentimeterbreite Abweichung würde zur Lüge.

Dieses Problem der Wahrhaftigkeit stellt sich für Gunther Skreiner in hohem Maß. Seit vielen Jahren gehört er zu den konsequentesten der wenigen österreichischen konkreten Künstlern.

Ein kurzer Blick auf seinen Arbeitsstil mag seine Position erläutern: Immer, wenn er "Lücken" in seinem Ordnungsgefüge zu entdecken glaubt, "Lücken", die ihn zu - vielleicht

sogar unbewußten - subjektiven "Äußerungen" verleiten könnten, versucht er, aus den Kombinationsangeboten ein noch konzentrierteres auszuwählen.

Skreiners Arbeiten beschränken sich auf farbiger Ebene auf Schwarz und Weiß als Linie und Bildgrund. Anders als in seinen Grafiken treten die Linien in den Bildern nicht als

durchgehendes, die Fläche überziehendes Rastersystem in Erscheinung. Kurze Striche gliedern die Fläche in einem bestimmten Rhythmus: Schräge, Gerade, Kurven. Tastet das Auge diese

Fläche ab, sucht es im ersten Eindruck nach Verbindungen, nach Ergänzungen. Da mag die eine oder andere Flächenform erscheinen, aber es fehlt ihr die zwingende Konsequenz. Der

gegenseitige Bezug der Elemente spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Mit größtmöglicher Disziplin schirmt Skreiner seine Bildidee vor Grenzüberschreitungen ab: gegenüber der opart

mit ihren manchmal kulinarischen Augentäuschungen oder knallharten Irritationen; gegenüber dem Strukturalismus mit seinen wesentlichen Oberflächenreizen; gegenüber den

flächigen "Konkreten" mit ihrem intensiv ausgeprägten Farbsystem. Die Setzung der kurzen Linien verweist auf ein dichtes Bildgefüge. Dicht von seiner Substanz, von seinem geistigen

Stoff her. Hier erweist sich der Strich nicht als ausgegrenztes Stück Unendlichkeit oder als Beschreibung geometrischer Figurationen, sondern als sichtbar gewordenes Element der

Materie. Er verbildlicht als Spur die Überlagerung und Durchdringung eines gewählten Ordnungssystems; dort, wo er die Fläche bedeckt, ist der Vorgang zu suchen. Freilich gliedert

Skreiner solcherart nicht die Fläche nach ästhetischen Gesichtspunkten, sondern deckt auf, was ihm der ausgewählte Raster an möglichen Positionen liefert. Der schöpferische Akt ist

mit der Setzung der Idee, dem Entschluß der Sichtbarmachung abgeschlossen. Aus der gewählten Ersatzform der Idee, dem Bild, bleibt der ästhetische Gestaltungsprozeß

ausgeschlossen. Geprägt von der immer neuen Schaffung von Möglichkeitsfeldern erweisen sich die Werke als knappe, konzentrierte Zustandsschilderungen. Sie legen ihren Kern bloß, ohne

daß dieser ohne Schale verletzbar oder gar zerstörbar wäre. Ich halte es für die Erlebnisebene dieser Kunst, einem Innern so nahe zu sein, wissend, daß der Künstler sich keiner

spektakulären Sezierinstrumente bedient.